Morgens um fünf Uhr, wenn die bitterkalte Winternacht unsere Welt noch fest im Griff hat, sind U-Bahnhöfe ein wahrer Melting Pot. Die letzten Nachtschwärmer überlassen mehr und mehr den Frühaufstehern das Feld, der Geruch von Schweiß und Alkohol weicht den oft nicht weniger penetranten Duftwolken von Deodorant und Rasierwasser.
Zu den Frühaufstehern gesellt sich an diesem Donnerstag Morgen auch eine Gruppe von drei Fahrgastzählern, deren Aufgabe es ist, die Anzahl der Personen in den ersten U-Bahnen des Tages zu ermitteln. Sie sitzen auf einer Bank im U-Bahnhof Messestadt West. Sobald sich eine stadteinwärtige Bahn ankündigt, verteilen sie sich über den Bahnsteig und zählen die ihnen zugeteilten Wagen des Zuges.
Schon bald fällt ihnen ein etwa dreißigjähriger Mann auf, der von einer langen und wohl alkoholbestimmten Nacht gezeichnet ist. Er hockt auf einer der Sitzbänke und gönnt sich eine weitere Flasche Augustiner. Sein Hemd ist durchgeschwitzt, der glasige Blick ist stur an die Betonwände der Station gerichtet.
Mehrere U-Bahnen fahren vorbei, doch der Mann macht keine Anstalten, einsteigen zu wollen.
Gegen halb sechs Uhr kommt Bewegung in diese Szenerie. Eine weitere Bahn fährt ein, die Fahrgastzähler begeben sich auf ihre Positionen. Eine von ihnen, sie ist angehende Lehrerin, stellt sich hierzu einige Meter neben den Betrunkenen und notiert die Anzahl der Fahrgäste auf einem Blatt Papier.
In diesem Moment stößt der unbeholfene Mann die vor ihm auf dem Boden stehende Bierflasche um, der süßlich riechende Inhalt verteilt sich über den Bahnsteig. Davon verständlicherweise verärgert greift er die nun fast leere Flasche und murmelt “Böses Bier!”
Diese Zurechtweisung der eigentlich unschuldigen Bierflasche reicht ihm jedoch nicht an Bestrafung. Er wirft sie mit all seiner Kraft gegen die abfahrende U-Bahn. Nur knapp verfehlt er dabei die Fahrgastzählerin.
Überrascht und verunsichert von diesem Wutausbruch treffen sich die drei Zähler wieder an der angestammten Position in der Mitte vom Bahnsteig. Sie beraten sich, wie mit der Situation am besten umzugehen sei. Gerade als das Team die Entscheidung fällt, die U-Bahn-Wache zu verständigen, scheint sich die Problematik von selbst zu lösen. Zwei Männer mit Uniformen einer privaten Sicherheitsfirma nähern sich dem Betrunkenen und sprechen ihn an. Was gesprochen wird können die drei nicht verstehen, doch der Mann scheint einsichtig.
Erleichtert begeben sich die angehende Lehrerin und einer ihrer Kollegen, ein mittelmäßiger Blogger, an die Oberfläche, um eine Zigarette zu rauchen. Noch während die beiden das eben Erlebte diskutieren, sehen sie den Trunkenbold in Begleitung der beiden Security Mitarbeiter die Rolltreppe herauffahren. Er hat trotz der Hilfe seiner neuen Begleiter massive Probleme, sich auf den Beinen zu halten. Oben angekommen bleibt das Trio in der Nähe der beiden Fahrgastzähler stehen und ermöglicht ihnen so, folgenden Dialog mitanzuhören:
Security
“Sag mal, spinnst du komplett? Wir haben in 30 Minuten Dienstbeginn!”
Betrunkener
“Gott, ich hasse es, als Messe-Security zu arbeiten. So ein Scheißjob!
[kurze Pause] Ach was soll’s! Ich hol’ mir noch zwei Bier, dann können wir anfangen.”