Aus dem Tagebuch eines Straßenbahnwagens

Ich bin eine dreiteilige Straßenbahn von AEG/Adtranz und wurde am 30. August 1996 nach München gebracht. Dort bekam ich meinen Namen, die Wagennummer 2146. Alle waren stolz auf mich und meine 69 Schwestern, wir waren die ersten komplett niederflurigen Fahrzeuge in München. Seit Beginn meines Daseins bin ich nun fast 970 000 Kilometer durch München gefahren. Obwohl ich dieses Jahr erst 18 Jahre alt werde, habe ich schon viel erlebt. Ich kenne alle Linien der Stadt auswendig, ich habe gesehen, wie sich das Stadtbild um mich herum verändert hat.

Die Trambahn der MVG wurde 1996 nach München geliefert.

Das bin ich, Wagen 2146, bei der Fahrt durch die Hohenzollernstraße in Schwabing

Um Euch den Alltag einer Straßenbahn zu zeigen, habe ich mal zusammengefasst, was in 24 Stunden auf Münchens Schienen so alles passiert:

 

25. Juli 2014

5:22 Uhr

Nach ein paar ruhigen Stunden im Betriebshof werde ich von einem müden und etwas mürrischen Fahrer geweckt. Er testet mich auf Herz und Nieren. Jemand sollte ihm mal sagen, dass ich erst ein paar Stunden zuvor für eine Routinekontrolle in der Werkstatt war.

5:40 Uhr

Ich werde langsam aus dem Betriebshof gefahren. Mein Fahrer hat mir die Kursnummer 27-23 gegeben, also werde ich heute zwischen Petuelring und dem Sendlinger Tor pendeln. Das ist keine besonders spannende Linie, aber welche Linie ist schon spannend, wenn man jeden Meter Strecke auswendig kennt.

5:46 Uhr

Als ich den Max-Weber-Platz erreiche, wird das Maximilianeum von den ersten Sonnenstrahlen beleuchtet. Den ersten Fahrgästen ist das egal, sie trinken stumm den ersten Kaffee des Tages. In Gedanken scheinen die meisten schon im Wochenende zu sein.

5:56 Uhr

Der erste Ärger des Tages lässt nicht lange auf sich warten. Eine Dame erkennt viel zu spät, dass ich keine 19er Tram bin und schüttet in ihrer Hektik die Hälfte ihres Latte Macchiato auf das Sitzpolster neben sich. Dieses süße Zeug klebt furchtbar in den Stoffbezügen der Sitze.

5:57 Uhr

Das Karma lässt nur ein paar Sekunden auf sich warten. Die Dame läuft ohne zu schauen über die Gleise und schreckt vor einer wild klingelnden Variobahn zurück. Dabei verschüttet sie die übriggebliebene Hälfte Ihres Kaffees, diesmal direkt über ihre Bluse. Ich würde das gerne weiter beobachten, aber mein Fahrer fährt mit mir unbeirrt Richtung Schwabing.

6:19 Uhr

Vom Petuelring aus starte ich meine erste reguläre Runde an diesem Morgen. Die ersten vier Stationen bis zum Nordbad fahre ich unabhängig vom Autoverkehr in der Straßenmitte. Mein Fahrer lässt mich mit meiner Höchstgeschwindigkeit von 60 km/h über das Rasengleis sausen. Dabei wird mir immer etwas mulmig. Schon oft genug ist mir ein unvorsichtiger PKW in die Quere gekommen.

7:20 Uhr

Inzwischen bin ich meine erste Runde gefahren. Es wird langsam voller. Doch auf der Linie 27 ist der Verkehr in der Rushhour nicht so schlimm. Während auf anderen Linien jetzt am meisten Betrieb ist, geht es bei mir gut voran.

7:26 Uhr

Zu früh gefreut. Kurz vor der Haltestelle Schellingstraße steht ein LKW am Straßenrand. Mein Fahrer befürchtet, dass ich daran nicht vorbei passe. Hält er mich etwa für zu dick? Dabei bin ich doch nur 2,30m breit! Ich klingele, bis ich ganz heiser bin. Nach 3 Minuten fährt der LKW beiseite und ich kann weiter.

Münchner Straßenbahn 2146 mit Werbung für Lotto

So sah ich vor meiner Rundumerneuerung aus. Dieses schöne Foto von mir hat Daniel Schuhmann gemacht.

9:12 Uhr

Ja haben die denn gar nichts im Kopf? Zwei ältere Damen wollen am Stachus als die Allerersten in die Tram einsteigen und blockieren damit den Weg für alle Aussteigenden. ERST AUSSTEIGEN LASSEN! Das sollte doch inzwischen jedes Kind kapiert haben.

9:50 Uhr

Am Hohenzollernplatz möchten 3 Mütter mit Kinderwägen gleichzeitig an meiner hintersten Tür einsteigen. Amüsiert beobachte ich deren vergeblichen Kampf, die rollenden Kleinkinder zu verstauen. Ich spiele das Spiel mit und lasse die Tür geöffnet, bis meine Lichtschranke wieder frei ist. Das klappt erst, als eine der Damen samt Wagen wieder aussteigt und murrend die eine Station zum Kurfürstenplatz läuft.

11:35 Uhr

Ich werde inzwischen von einem anderen Fahrer durch die Stadt manövriert. Wir haben ein paar Minuten Verspätung und er ist ungeduldig. Doch in der Barerstraße geht es nur langsam voran. Ständig sind Fahrradfahrer vor mir unterwegs. Die MVG will nicht, dass ich sie überhole, dafür sei der Sicherheitsabstand zu gering. Manchmal habe ich das Gefühl, alle halten mich für fett.

12:38 Uhr

Am Sendlinger Tor sind 2 Jungs eingestiegen, sie sind etwa 12 Jahre alt. Neugierig schauen sie meinem Fahrer bei der Arbeit zu, drücken ihre Nasen gegen die abgedunkelte Glastür vom Fahrerstand. Bis vor zwei Jahren konnte man bei mir noch den Kopf in die Kabine des Fahrers stecken, doch seit meiner Erfrischungskur ist der Fahrer nun komplett von den Fahrgästen abgeschirmt.

13:57 Uhr

Ein junges Mädel und ein älterer Herr führen ein nonverbales Machtspiel um den Sitzplatz neben meiner dritten Tür. Er blickt Sie wortlos an, in der Hoffnung, sie überließe ihm den Platz. Sie hingegen starrt unbeirrt in ihr Smartphone und gibt vor, ihn nicht zu bemerken. Eine Station später, an der Herzogstraße, steigt der Mann bereits wieder aus. Dennoch wurde er wieder mal in seiner Meinung über die heutige Jugend bestätigt. Beim Abfahren höre ich ihn immer noch granteln.

15:09 Uhr

Die Straßenbahn vor mir steht am Stachus und hat eine Türstörung. Das passiert zwar manchmal, ist aber für uns Trambahnen immer eine peinliche Situation. Man fühlt sich in diesem Moment so schutzlos, gehemmt. Zum Glück machen meine Türen keine Probleme!

15:11 Uhr

Ich werde über den Hauptbahnhof und die Dachauer Straße umgeleitet. Weiter über den Leonrodplatz erreiche ich schließlich das Nordbad und damit meine eigentliche Route. Einige Fahrgäste sind erstaunt, dass man auch auf diesem Weg zum Petuelring fahren kann. Ich freue mich immer, wenn ich die Leute überraschen kann.

17:23 Uhr

Nach dem Zwischenfall mit der Umleitung ist bisher alles ruhig verlaufen. Nun werden die Fahrgäste langsam immer fröhlicher. Das Wetter ist schön und viele sind auf dem Weg in einen der Biergärten Münchens. Ich bin etwas neidisch, doch meine Diät beinhaltet ausschließlich Fahrstrom und Bremssand.

19:52 Uhr

Es kommt nochmal Hektik auf. Junge Leute, vorwiegend Studenten, rennen aufgescheucht durch die Straßen. Sie versuchen, noch vor Ladenschluss alle wichtigen Einkäufe zu erledigen. Waren Sie erfolgreich, dann steigen Sie mit Bier, Tiefkühlpizza und etwas Alibi-Obst bepackt zu mir ein. Doch kaum ist es kurz nach acht, ist der Spuk auch wieder vorbei.

20:10 Uhr

Am Sendlinger Tor steigt eine Gruppe junger Damen ein. Sie teilen sich eine Flasche Weißwein und reden aufgeregt über eine bevorstehende Geburtstagsfeier. Sie haben dafür sogar einen aufwendig verzierten Kuchen in Form eines nackten Mannes dabei.

20:14 Uhr

Jetzt ist es passiert! An der Kreuzung Gabelsbergerstraße nimmt mir ein unvorsichtiger Autofahrer die Vorfahrt, meine Fahrerin muss scharf bremsen. Der Kuchen fügt sich seiner Trägheit und landet mit Schwung auf dem Boden vor der zweiten Tür. Das Entsetzen der Mädels ist groß. Sie versuchen verzweifelt, den beschädigten Kuchenmann wieder auf sein Tablett zu heben. Schließlich steigen Sie aufgelöst an der Nordendstraße aus.

20:19 Uhr

Schon eine Station später, am Elisabethplatz, steigt eine Dame mit Hund ein. Noch bevor sie reagieren kann, hat der kleine Mischling die Kuchenreste entdeckt und verschlingt sie gierig. Auch wenn mir die professionelle Reinigung im Betriebshof lieber ist, so bin ich diesem Hund doch dankbar, dass der Boden jetzt wieder einigermaßen sauber ist.

Straßenbahn R2.2 (2146) nach dem Redesign

Am liebsten fahre ich im Grünen, aber davon gibts auf dem 27er leider zu wenig.

21:44 Uhr

Am Stachus steigen wieder mal viele junge Leute ein, die in eine der Bars oder Kneipen im Univiertel fahren wollen. Viele von Ihnen haben inzwischen ein Wegbier bei sich. Auch wenn in uns Fahrzeugen Alkoholverbot herrscht, es macht mir nichts aus. Nur hoffe ich, dass alle ihre Flaschen wieder mit rausnehmen.

23:49 Uhr

Es ist etwas ruhiger geworden. Auf dem Platz gegenüber der dritten Tür hat es sich ein Bekannter bequem gemacht. Er verbringt einen Großteil seine Zeit (gemeinsam mit einem schweren Koffer) in uns Trambahnen. Nachts im Betriebshof rätseln wir oft, was in dem Koffer sein könnte.

0:57 Uhr

Ein letztes Mal erreiche ich den Petuelring als Linie 27. Während viele meiner Kolleginnen bereits wieder in den Betriebshof eingerückt sind, werde ich nun zur Nachttram. Als Linie N27 beschildert habe ich jetzt auch ein neues Ziel. Ab Sendlinger Tor werde ich diese Nacht weiter über den Ostfriedhof bis ans südliche Ende Münchens fahren. Auf meiner Anzeige steht nun „Großhesselhoher Brücke“.

1:59 Uhr

Pünktlich erreiche ich die Wendeschleife an der Grenze zu Grünwald. Hier fahren nachts nur wenige Fahrgäste mit. Doch je weiter ich wieder Richtung Stadtzentrum komme, desto mehr angeheiterte Leute steigen bei mir ein. Während einige der Menschen noch in bester Feierlaune sind, schlafen andere auf einem meiner Sitzplätze ein.

4:50 Uhr

Nach zwei Runden als Nachttram werde ich am Petuelring wieder zur normalen Linie 27. Jetzt als Kurs 22 beschildert werde ich noch bis 22:43 Uhr meine Runden drehen müssen. Erst dann kann ich mich im Betriebshof von meiner 41-Stunden-Schicht und etwa 550 Kilometern Fahrstrecke erholen.

 

Wie Ihr seht, ist mein Dasein als Münchner Straßenbahn sehr anstrengend, aber auch spannend und voller Erlebnisse. Kommt doch mal bei Gelegenheit vorbei und fahrt ein paar Runden mit uns mit. Wer entspannt und mit offenen Augen Trambahn fährt, der entdeckt auf seiner Fahrt nicht nur die Stadt, sondern kann auch die vielen kleinen Geschichten beobachten, die tagtäglich bei uns passieren. Steigt ein!

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